Hypernormal

Mit der Freiheit, professionell und finanziell unabhängig zu sein, ist Kunst die letzte Auseinandersetzung in meinem Leben. Es stellt sich dabei die Frage, was Kunst sei. Die Antwort ist ganz einfach. Kunst ist, was ein Künstler macht. Ich bin Künstler und mache Kunst, weil ich nichts anderes tue. Nach tausenden Bildern habe ich Form, Farbe und Effekt im Griff, pflege Expedition, Kontemplation und Inspiration und berücksichtige Psychologie, Philosophie und nicht zuletzt die Physik (Optik). Das geistiges Engagement von Beginn an nutzend, bin ich tapfer durch die Phase der Nachahmung gekommen und nun zum Ausdruck willens und fähig, ohne zufällig zu sein, auch wenn ich nichts mit Blumen, Töpfen oder Schrift zu tun habe und auch lieber Kaffee als Tee trinke.

Ein Künstler zu sein, ist mehr Glaube als Talent, eine Entscheidung. Es gilt, die (verbleibende) Zeit zu definieren und zu gestalten. Denken und Handeln dürfen dabei keinem Zweck oder Ziel unterliegen. Schön ist, dass einen damit eine schamanische Aura umgibt, die Wohlwollen und Rücksicht mit sich bring. Es ist von alters her bekannt, das alles verborgen und verdeckt ist, dagegen kann ich nichts tun. Also nutze ich es. Die sich beim Versuch des Aufdeckens ergebende Freiheit ist irrational bzw. absurd, so haben meine Bilder zu sein. Es ist dabei irrelevant, ob ich klassisch arbeite oder die digitale Vorbereitung oder KI-Tools (künstliche Intelligenz) nutze, die Umsetzung bleibt nach analoger Übertragung auf das Medium klassisch und unterliegt weiter dem kreativen Prozess.

Als libertärer Erkenntnisagent und Systemlaborant bin ich bei der Bemühung, das auf einen Punkt zu bringen, auf einen Begriff gestoßen, der trifft: Hypernormal. Hypernormal ist ein Begriff aus der Psychologie und beschreibt eine Persönlichkeit, die sich sehr bemüht, normal zu erscheinen. Der Begriff wird auch in der Mathematik verwendet und beschreibt eine Matrix. Hypernormalität kann das nie existierende, unbegrenzt vieldeutige Mittelmaß oder eine gefangen nehmende Parallelwelt, sein. Letztlich beschreibt der Begriff einen irrationalen Zustand des Wissen über und des eigenen Verhaltens in einer Gesellschaft, einer Fake-Gesellschaft. Neben den soziologischen und mathematischen gibt es auch medizinische und einige kulturrelevante Aspekte.

Mit dieser Kunstrichtung werde ich der postfaktischen Ära, auf die wir uns alle zubewegen, gerecht. Ich möchte weder den Ursachen entgegenwirken, noch halte ich es für klug, das zu versuchen. Meine Kunst ist eine provokante Generalabrechnung mit dem Irrsinn, den wir in Politik, Wirtschaft, Religion und Gesellschaft erleben und die jedem einzelnen innewohnt, und das schon immer.

Intelligenz und Kreativität gehören nachgewiesener maßen zwingend zusammen, auch wenn daraus schnell eine anarchistische Weltanschauungen entspringt. Ich bin kein Anarchist, wäre aber gerne einer. Es lauert so die Gefahr, der Herrschaft einer Außenwirkung zu gehorchen und gefangen zu sein, im eigenen Anspruch. Ich habe Angst, mich an dem zu überheben. Solange aber Verwirrung und Gewohnheit abgelöst wird durch Gleichgültigkeit und Mut, ist’s für mich “scho rächt, gelle”, wie Tante Annelise es sagen würde.

  • Im o.g. Sinne sind meine Bilder ab 2015 also nicht realistisch sondern normal, hypernormal; trauen sie ihnen nicht.
  • Kunst ist nicht Dekoration sondern Erklärung und dabei ein Geschäft, ein hochgradig absurdes Geschäft.
  • Hypernormalität gilt in Zeiten des [vor einem | als Indikator für einen] Systemwechsel[s].

Jens H. Westermann